"TAGEBUCH" VON DAWID RUBINOWICZ 
Robert Szuchta
 

„Der Rest blieb nicht schweigend”

über das Schicksal von Dawid Rubinowicz und seines „Tagebuchs“



  • Wer war Dawid?
  • Was passierte danach?
  • "Das Tagebuch des Dawid Rubinowicz"
     

    Dawid Rubinowicz, „Das Tagebuch des Dawid Rubinowicz” [Auszüge]*

    Das Tagebuch von Dawid Rubinowicz ist ein einzigartiges Zeugnis des Schicksals eines jüdischen Jungen im Holocaust. Warum schrieb Dawid sein Tagebuch? Tat er das aus ähnlichen Gründen wie Anne Frank? Aus welchem Anlass hat der Sohn des Milchmannes, in dessen Familie es keine literarische Traditionen gab, angefangen, Tag für Tag seine Erfahrungen aus der Zeit des wachsenden Schrecken aufzuschreiben? Im Tagebuch gibt es keine direkten Antworten auf diese Fragen. Wir können uns jedoch bemühen, nach ihnen zu suchen. Dawid wollte sie uns sicherlich geben. Dank der Notizen von Dawid können wir nachvollziehen, wie sich die Schlinge um den Hals der Juden aus Kielce und der Gegend enger zog, bis zu den letzten Momenten in den Gaskammern von Treblinka. Die Sprache des Tagebuches, die Art, wie Dawid nicht nur über die Ereignisse, sondern auch über seine Gedanken, Überlegungen und vor allem Emotionen und Empfindungen berichtete, tragen dazu bei, dass das Tagebuch eine unschätzbare Quelle der Erkenntnis und des Verständnisses, was damals passierte, ist. Dawid verdanken wir ein wertvolles Zeugnis des Schicksals von hunderttausenden jüdischer Kindern, denen es versagt wurde, zu reifen und erwachsen zu werden.


    Der Umschlag der ersten Ausgabe des „Tagebuchs“ von Dawid Rubinowicz

     

    [1942]

    1. Mai: Als ich in Krajno war, habe ich mir von dort mehrere Bündchen Schnittlauch mitgebracht. Heute hatte ich Zeit und habe sie in Blumentöpfe eingepflanzt. Ich war noch nicht fertig, da hat mich Vater zum Mahlen gerufen, ich sollte alles auf dem Hof stehen- und liegenlassen, und mein Bruder sollte aufräumen. Nach dem Mahlen ging ich in die Wohnung. Als Vater kam, fing er an, sich sehr über mich zu ärgern, warum ich das Holz im Holzschuppen durcheinander geschmissen hätte, und schlug mich. Ich sagte ihm, daß ich doch keine Zeit gehabt hätte, das Holz ordentlich hinzulegen, und er schlug mich noch mehr. Ich war sehr aufgeregt, warum schlug er mich ohne Grund. Und schließlich, als er mehrere Male mit der Riemenschnalle geschlagen hatte, fing ich heftig zu weinen an, nicht so sehr vor Schmerz wie vor Wut. [...] Wenn der Krieg nicht wäre, dann wäre ich nicht zu Hause, dann wäre ich schon lange bei irgendeinem Handwerk, und so muß ich nur leiden. Vater hat mich überhaupt nicht lieb, und es tut ihm auch nicht leid, wenn was passiert. [...]

    6. Mai: Ein schrecklicher Tag! So um 3 herum weckte mich ein Klopfen. Das war die Polizei, die schon Razzia machte. [...] Ein jüdischer und ein polnischer Polizist traten ein. Gleich fingen sie an zu suchen, einer guckte mich an und befahl, ich soll mich anziehen. Der andere fragte, wie alt ich bin, ich antwortete: 14 Jahre, da ließ er mich in Ruhe. [...] Ich fürchtete mich nicht, trotzdem aber zitterte ich wie im Fieber. Als sie weg waren, schlief ich gleich ein. Morgens weckte mich meine Kusine, Vater mit dem Fuhrwerk war gekommen. Ich zog mich schnell an und ging raus, aber Vater war schon nicht mehr da, weil er gleich vor der Polizeistreife davongelaufen war. [...] Anciel kam und sagte, daß sie Vater und meinen Vetter auch aufgegriffen haben. Da erst fing ich an zu weinen. Den Vater haben sie uns genommen, und jetzt fühlte ich so eine Sehnsucht nach Vater. [...] Auch die Polizisten von Bieliny haben bei der Razzia mitgemacht. Als es ein bißchen ruhiger wurde, kamen zwei Autos, und eins hatte einen Anhänger. Als ich das sah, dachte ich sofort, daß sie Vater wegbringen, und fing fürchterlich zu weinen an. Vater hat meinem Bruder gesagt, er soll ihm Essen bringen, ein paar Wäschestücke und einen kleinen Topf. Und wieder mußte ich weinen, als ich sah, daß er das alles mitnahm. Mutter war die ganze Zeit beim Judenrat, sie hat sich um Vater bemüht, sie haben nur gesagt, daß sie ihn rauslassen. Mein Bruder kam eine warme Mütze holen, aber es war zu spät… Das Auto war schon auf dem anderen Marktplatz. Ich weinte laut auf, als sie in unserer Nähe waren, habe gerufen: Vati! - Vati, wo bist du, wenn ich dich noch einmal sehen könnte… und da habe ich ihn auf dem letzten Wagen gesehen, er war verweint. Ich sah ihm nach, bis er an der Biegung verschwand, dann erst habe ich einen Weinkrampf bekommen, und ich fühlte, wie sehr ich ihn lieb habe und er mich. Und erst jetzt habe ich gefühlt, daß das, was ich am 1. Mai geschrieben habe, daß er mich nicht lieb hätte, eine gemeine Lüge war, und wer weiß, ob ich dafür nicht werde büßen müssen, daß ich ihn so verdächtigt habe, wo es doch gar nicht wahr ist. Wenn es der liebe Gott will und er wiederkommt, dann werde ich nicht so zu ihm sein. Noch sehr lange habe ich geweint, und immer, wenn ich an Vaters verweintes Gesicht dachte, fing ich noch mehr zu schluchzen an. Das teuerste in der Welt, was wir hatten, das habe sie uns weggenommen - und er ist noch krank dazu… [...] Ich habe mich ins Bett gelegt, an Vater gedacht... Ich liege hier so im bequemen Bett, er aber hat vielleicht nicht mal ein bißchen Stoh in so einer Baracke. Mir wurde so schwer ums Herz, daß ich die Tränen nicht halten konnte und weinte, und so bin ich dann eingeschlafen.

    8. Mai: [...] Auf die Straße ging ich den ganzen Tag nicht mehr. Abends bin ich beten gegangen, es ist doch Freitag heute. Sonst sind wir immer mit Vater zusammen gegangen, wie es auch war, ob lustig oder traurig, aber wir waren mit Vater und jetzt… Als wir vom Beten zurückkamen, war ich furchtbar traurig. Wie sollte ich auch nicht traurig sein, das Abendessen war irgendwie zubereitet, der Tisch gedeckt, es ist doch Feiertag. Wenn ich aber Vaters Platz sehe und er nicht dort sitzt, zerreisst mir Leid und Trauer das Herz...[1]

    14. Mai: Als Mutter über die Straße ging, hielt einer vom Rat sie an und gab ihr ein Päckchen. Sie hatten vergessen, es ihr gestern zu geben. Vater schickt schmutzige Wäsche, meine Vetter ebenfalls. In dem Päckchen waren auch drei Briefe. [...] Er schreibt, daß ich mich verstecken soll, weil es noch Razzien geben wird, er will daß ich Mädchenkleider anziehe. Er bittet, ihm ein paar Zloty zu schicken, aber woher nehmen, weiß er nicht, und woher wir Geld für unsere Ausgaben nehmen werden, das weiß er auch nicht. Er betont, daß wir alles verkaufen und ihn retten sollen, wenn nur irgendwie möglich. Ich habe mich ordentlich ausgeweint nach so einem traurigen Brief. Als ich etwas ruhiger war, ging ich, um die Briefe meiner Vetter zu lesen. Sie schreiben dasselbe wie Vater und daß wir sie retten sollen. Beim Lesen der Briefe habe ich gedacht, wir sind hier in Freiheit (eine solche Freiheit wünsche ich einem Hund, aber immerhin haben wir es hier besser als Vater dort), und vielleicht braucht Vater ein Stückchen Brot? Ach, wie schrecklich das ist...

    21. Mai: [...] Vater hat durch Bekannte mehrere Zettel geschickt, daß wir ihm ein paar Kartoffeln schicken möchten, Brot, gekochte Nudeln und Hirsegraupen. Wir haben gleich ein Paket fertiggemacht und es dem Fahrer mitgegeben. Wir haben ganz und gar vergessen, daß heute Pfingsten ist, und haben gar nichts vorbereitet, so sind wir nur mit dem einen beschäftigt. Es ist noch nie vorgekommen, daß Vater an einem Festtag nicht da gewesen wäre, und heute ist er nicht nur nicht da, sondern auch noch im Lager.

    22 Mai: Beim Beten bekam ich große Sehnsucht nach Vater. Ich sah andere Kinder mit ihren Vätern stehen, und was sie beim Beten nicht wussten, zeigten ihnen die Väter, und wer zeigt es mir… nur der liebe Gott allein, daß er mir gute Gedanken gebe, daß ich einen guten Weg gehe… Noch nie war es mir so beschwerlich gewesen wie heute bei dem Gebet, weshalb hätte es mir auch früher so beschwerlich sein sollen? Wenn der liebe Gott geben möchte, daß Vater bald gesund zurückkäme. [...]

    1. Juni: Ein Tag der Freude: Wir erwarteten einen Brief von Vater, aber es kam kein Brief, nur eine Postkarte vom Vetter mit Grüßen von Vater und weiter nichts. Wir hatten für Vater ein großes Paket vorbereitet, denn morgen fährt der Rat nach Skarżysko. [...] Mit Ungeduld wartete ich, daß es drei Uhr wurde, da kommt die Post. Vielleicht kommt ein Brief von Vater, vielleicht hat er Aussichten, freizukommen. Gegen Abend war ich zum Nachbarn gegangen, um Holzpantinen für die Schwester zu machen. Bei der Arbeit hörte ich ein Auto kommen und Gesang, da hab ich mir gleich gedacht, daß die Juden aus Skarżysko kommen. Ich rannte raus, und richtig, sie kamen angefahren. Von weitem war zu sehen, wie sie mit Händen und Mützen winkten, ich sah auch, wie mein Vater winkte. Ich schmiß alles hin, lief hinterher und kam gleichzeitig mit dem Auto an. Sofort nahm ich Vater das Bündel ab, und er stieg vom Auto. [...] Ich ging in die Wohnung und konnte vor lauter Freude Vater nicht einmal begrüßen. Niemand kann sich unsere Freude vorstellen, nur der kann sie sich vorstellen, der das selber erlebt hat. Es war alles wie in einem Film, soviel durchlebten wir in kaum einer Sekunde. [...]

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    * „Das Tagebuch des Dawid Rubinowicz“, Hrg. Walter Petri, Beltz Verlag, Weinheim und Basel 1988.

    [1] Dawids Vater wurde zusammen mit den anderen Juden aus Bodzentyn am 6. Mai 1942 nach Skarżysko-Kamienna abtransportiert, wo ab April 1942 Zwangsarbeiterlager für Juden, die in den Rüstungsbetrieben arbeiteten, eingerichtet worden waren. Diese Betriebe gehörten zum "Hasag" Konzern (Hugo Schneider Aktiengesellschaft); Anfang 1940 lief die Produktion für die Bedürfnisse des Dritten Reichs an. Ab Mitte 1942 befanden sich in diesen Lagern durchschnittlich 8000 Juden. Die Arbeit in den Betrieben, in denen Geschosse, Karbid u.a. produziert wurden, verursachte eine hohe Sterblichkeit unter den Häftlingen, die an Krankheiten und Hunger starben. Diejenigen, die nicht mehr arbeiten konnten, wurden erschossen. In "Hasag" starben ca. 35 000 Menschen verschiedener Nationalitäten, darunter ca. 10 000 Juden.

     

         
  • A & K Woźniak